Menschen im Gespräch: Teil II
Interview
mit
Dr. Reinhard Böhm
Es ist mir eine große Freude als meinen nächsten Interviewpartner einen der bekanntesten österreichischen Klimawissenschafter vorstellen zu dürfen - Dr. Reinhard Böhm von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (=ZAMG) in Wien (Siehe: http://www.zamg.ac.at)
Dr. Böhm gilt als ausgewiesener Experte im Feld der Klimaforschung, im Speziellen der Klimamodellierung für die alpine Region (CV mit einer Auswahl seiner Publikationen, anseh-/ downloadbar [pdf-Format, ca. 450 KB] unter: Curriculum Vitae). Nebenbei und dadurch wohl bei einem breiteren Publikum bekannt geworden, ist Dr. Böhm auch ein gefragter Gastkommentator und gern gesehener Interviewpartner für die nationalen und internationalen Mainstreammedien (u.a. Die Presse, Wiener Zeitung, Der Standard).
Mir war es ein besonderes Anliegen, dieses Interview mit Dr. Böhm zu führen, da ich seine wissenschaftliche Arbeit, seine diesbezüglichen Äußerungen als dem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet ansehe; besser ausgedrückt durch folgendes Bild: Würde der griechische Kyniker Diogenes heute - im übertragenen Sinne - auf einem Kongress der Klimawissenschafter mit einer Laterne erscheinen und lauthals darauf zu insistieren suchen, dass man ihm - auf der vergeblichen Suche nach einem Klimatologen - doch einen Klimawissenschafter zeigen möge [1], so würde man ihn wohl ohne Bedenken auf Dr. Böhm verweisen können. Als einer von wenigen Wissenschaftern seiner Zunft plädiert er kontinuierlich, in gut aristotelischer Tradition, für einen gangbaren Weg der Mitte zwischen Klimaalarmismus und -skeptizismus, dafür, den soliden Boden der Ratio nicht zu verlassen (Cf., Die Presse, Samstag, 5. Dezember 2009, 44).
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W.v.B.: Lieber Dr. Böhm, ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie die Zeit erübrigen konnten um mir ein Interview zu geben. Herzlichen Dank dafür!
Dr. Böhm: Schönen Dank für Ihr „geehrt fühlen“ – ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, für Diskussionen über „den Klimawandel“ Zeit zu erübrigen. Nicht zuletzt hat mich die Länge Ihrer Fragen überzeugt – ich bin kein Freund der unangemessenen Verkürzungen, die einem komplexen Thema nur in Ausnahmefällen gerecht werden können.
Eine kleine Zurechtrückung Ihres Lobes meiner Person sei noch erlaubt: Ich glaube nicht, dass ich „einer der wenigen“ meiner Zunft bin, die für Rationalität in der Klimadebatte plädieren. Vielleicht tun das zu wenige in aller Öffentlichkeit – manche aus Zeitnot (was ich verstehen kann, da uns alle „die Klimadebatte“ ziemlich überrollt hat), manche wegen schlechter Erfahrungen, manche vielleicht auch aus der Unsicherheit heraus, deren sich der Fachwissenschaftler immer bewusst ist, die jedoch in der öffentlichen Debatte gern negativ (Zaudern) ausgelegt wird.
Wenn, um bei Ihrem Bild aus der Antike zu bleiben, Herr Diogenes auf dem Klimakongress statt einer Laterne ein Richtmikrophon verwendet hätte, würde ihm das so manche Gespräche zugetragen haben, die sehr sachlich und kritisch sind – einfach wissenschaftlich eben.
W.v.B.: Die Klimawissenschaft ist in aller Munde. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte die Klimatologie weltumspannend wohl nicht mehr als den Status eines Orchideenfaches und der gebildete Laie kannte, wenn überhaupt, Namen wie zB. den eines Dr. Hubert Lamb - einem damaligen Dojen der Klimawissenschaften - nur vom Hörensagen.
Aus diesem öffentlich kaum wahrnehmbaren "Normalzustand" wissenschaftlicher Weltaneignung trat die Klimawissenschaft spätestens, durch eine Verschiebung der Schwerpunktsetzung innerhalb der Klimaforschung, mit Beginn der 90er Jahre heraus. Der bekannte deutsche Klimatologe Hans von Storch schreibt:
Aus diesem öffentlich kaum wahrnehmbaren "Normalzustand" wissenschaftlicher Weltaneignung trat die Klimawissenschaft spätestens, durch eine Verschiebung der Schwerpunktsetzung innerhalb der Klimaforschung, mit Beginn der 90er Jahre heraus. Der bekannte deutsche Klimatologe Hans von Storch schreibt:
Bis in die 1980er Jahre stand die Klimadynamik im Mittelpunkt der Klimaforschung, aber seit den 1990ern geht es um die drohende ,Klimakatastrophe' und den Klimaschutz.
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, ca. 450 KB] unter:
http://coast.gkss.de/staff/storch/pdf/gaia.final.pdf)
Diese Verschiebung des Normalzustands eines rein wissenschafts-internen, der Wahrheitsfindung verpflichteten akademischen Diskurses, hin zu einem neuen Zustand der Aneignung von und Durchmischung mit eigentlich im politischen Diskurs zu lösenden Problemfeldern im externen Bereich - einer von "fehlerhaften Zirkeln" (Circuli vitiosi) durchsetzten Wissenschaftlichkeit -, versuchte von Storch mit dem Terminus "postnormal" [2] zu erfassen.
Ich persönlich sehe hierin eher die Auswirkungen der Anwendung von postmodernem "panfiktionialistisch, weltverschwindlerischem" [3] Gedankengut auf die naturwissenschaftliche Praxis. Diese "paradigmatische Wende" kann wohl als mitverantwortlich dafür angesehen werden, dass altbekannte, zu den Allgemeinplätzen in der Klimatologie gehörende Phänomene, wie die von Dr. Hubert Lamb 1965 erstmals beschriebene, hundertfach bestätigte und selbst von der IPCC 1990 angeführte (Siehe: Post 2010/05) Mittelalterliche Warmperiode, plötzlich, mit einer und durch nur eine handvoll Arbeit(en) (Mann et al. 1998, 1999 - siehe: Post 2010/06) aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit entfernt werden konnte. Deming meint:
Decades of work was overturned by one journal article. The MWP had been reinterpreted out of existence.
Deming, D.: Global Wrming, the Politicization of Science, and Michael Crichton's State of Fear, in: Journal of Scientific Explorations, Vol. 19, No. 2, 249, 2005
Heute, mehr als 10 Jahre danach, sehen wir die Klimawissenschaft gespalten in mehrere Lager. Einerseits die Fraktion derjeniger, die eine nahende Apokalypse zu erkennen glauben (aussterbende Eisbären, überflutete Küstenstädte, schmelzende Pole etc.) und andererseits derjeniger, die Aussagen über eine etwaige Erderwärmung jede wissenschaftliche Evidenz in generi absprechen. Dazwischen einige wenige, sich noch?! im wissenschaftlichen "Normalzustand" befindende Wissenschafter, die jedoch, ob der politisch aufgeheizten Stimmung kaum öffentliches Gehör finden.
Können Sie meinen Lesern Ihre Wahrnehmung der Situation sowohl als Experte von innen als auch als einfacher Bürger von außen schildern. Worin sehen Sie die Ursachen, die Fehlentwicklungen innerhalb der Klimatologie und vor allem, was wäre Ihr Lösungsansatz?
Dr. Böhm: Wenn man seine eigenes Fachgebiet „von innen“ ganz gut kennt, bleibt einem beinahe nur der „inside looking out“ Blickwinkel. Wer vorgibt, gänzlich aus sich selbst heraustreten zu können und die Welt aus einem völlig unpersönlichen Blickwinkel – und damit angeblich „objektiv“ – betrachten zu können, dem nehme ich das nicht ab.
Den von Ihnen verlangten „einfachen Bürger“, der das ganze von außen betrachtet, den hänge ich mir nur dann als deutlich erkennbares Schild um, auf dem steht „kein Experte“, wenn es in der Diskussion um Dinge geht, auf denen ich keine Fachexpertise habe – also z.B. wie man die Treibhausgase wieder aus der Atmosphäre bringt („carbon storage“), ob die menschliche Gesellschaft in den nächsten 100 Jahren weiter zusammenwachsen, oder sich stärker differenzieren wird, welchen Einfluss das Klima auf die Fahrten der Wikinger nach Grönland und Labrador hatte und ähnliche Dinge.
Und damit sind wir bereits genau am Kern der Sache, worunter die aktuelle Klimadebatte leidet: Auf beiden Seiten der anscheinend so unversöhnlichen Extrempositionen reden und schreiben sogenannte „Experten“ meist über Dinge, für die sie keine Experten sind. Das dürfen und sollen sie natürlich, sonst gäbe es ja gar keine öffentliche Debatte und die betrachte ich als eines der höchsten Güter in einer demokratischen und freien Gesellschaft. Aber sie sollten dies immer nur „auf Augenhöhe“ tun und nicht vom hohen Ross des vorgegebenen Expertentums aus.
Ich weiß wie schwer das ist, nicht zuletzt deshalb, weil die Grenzen nicht scharf sondern fließend sind. Um gleich bei mir selbst zu beginnen, habe ich wahrscheinlich schon einen von Ihnen angesprochenen höheren (angelesenen) Kenntnisstand über „Klimamodellierung für die alpine Region“, meine Kernkompetenz liegt jedoch nicht in der Klimamodellierung, sondern in der Messdatenkritik (Qualität) und der Datenanalyse. Das wiederum passt aber ganz gut zu Ihren speziellen Fragen über die MWP.
W.v.B.: Herr Dr. Böhm, lassen Sie uns jetzt auf das Thema meines Blogs zu sprechen kommen. Ich behandle explizit die Frage nach vorhandener, wissenschaftlicher Evidenz für die Behauptung, dass es eine MWP (weltumspannend) gab. Im Zuge meiner Recherchen bin ich auf viele "peer-reviewed-papers" gestoßen, in welchen Evidenz für die Existenz einer MWP für den alpinen Raum geliefert wird. Dabei wurden verschiedenste Proxydaten teilweise zu "Multiproxy-Rekonstruktionen" zusammengefasst.
Um einige Beispiele zu nennen:
- Holzhauser et al.: Glacier and lake-level variations in west-central Europe over the last 3500 years, in: The Holocene 15, 6, 2005.
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, 1 MB] unter:
Glacier and lake-level variations in west-central Europe ...)
Glacier and lake-level variations in west-central Europe ...)
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, 1,1 MB] unter:
Late Holocene glacial and periglacial evolution ...)
Late Holocene glacial and periglacial evolution ...)
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, ca. 190 KB] unter:
Reconstruction of temperature in the Central Alps ...)
Reconstruction of temperature in the Central Alps ...)
Ich möchte diesbezüglich nun auf eines Ihrer Projekte zu sprechen kommen, in welchem, wie im Falter (47/07) angeführt, "erstmals eine Rekonstruktion des Klimas der vergangenen tausend Jahre im Alpenraum erarbeitet wurde." Es handelt sich hierbei um das Projekt ALP-IMP (Siehe: http://www.zamg.ac.at/forschung/klimatologie/klimawandel/alp-imp/).
Möchten Sie uns Genaueres zur Ausgangssituation und in weiterer Folge zu den Ergebnissen dieses Forschugnsprojektes bezüglich der wissenschaftlichen Evidenz für die Existenz einer Mittelalterlichen Warmperiode im Alpenraum mitteilen?
Dr. Böhm: In dem EU-Projekt ALP-IMP (5.Rahmenprogramm, http://www.zamg.ac.at/alp-imp), hatte ich die erfreuliche Gelegenheit, ein Forschungsprojekt zu leiten, in dem 10 renommierte bis sehr renommierte europäische Institute teilnahmen. Hauptziel war Klimarekonstruktion im letzten Millennium, Zielregion der Großraum Alpen, die angestrebten Techniken waren instrumentelle Messdaten (I), Klimamodellierung (M) und indirekte Klimadatenanalyse (Proxies und somit das P aus IMP). Das Projekt lief drei Jahre (2003-2006) und erbrachte eine „Ernte“ von 50 peer reviewten Publikationen. Sehr gute und professionelle Ergebnisse erbrachte (und das war wirklich „erstmalig“ wie der Falter schrieb) eine Co-Analyse von tausenden Baumringdatensätzen aus der Region. Aus den temperatursensitiven Bäumen an der alpinen Baumgrenze konnten die Projektpartner des WSL-Instituts in Birmensdorf bei Zürich (Kerstin Treydte, Jan Esper, Ulf Büntgen David Frank), der Uni-Innsbruck (Kurt Nicolussi) und der Holzforschung der BOKU-Wien (Michael Grabner, Sofia Leal) unter Verwendung unserer langen instrumentellen Zeitreihen (ZAMG-Klimaforschung, damals in erster Linie Inge Auer, Wolfgang Schöner, Markus Ungersböck, Helfried Scheifinger, Alexander Orlik) eine Rekonstruktion der Sommertemperaturen in den Alpen (genauer des Mittels von Juni-Juli-August-September) in jährlicher Auflösung zurück bis zum Jahr 755 ad. erarbeiten. Die Projektkollegen der Climatic Research Unit (CRU) der Uni-Norwich (Dimitrios Efthymiadis, Phil Jones, Keith Briffa) konnten unter Verwendung ihrer (weltweiter CRU-Datensatz) und unserer (HISTALP-Datensatz der ZAMG) Messdaten zeigen, dass dieser Temperaturverlauf aus den Hochlagen der Alpen auch für größere Teile Festlandeuropas repräsentativ ist, dass aus der durch die Wachstumsperiode der Bäume vorgegebenen Beschränkung auf einige Sommermonate allerdings nicht auf Winter- oder Ganzjahrestemperaturverläufe geschlossen werden darf.
Ich habe mich gerade bemüht – vielleicht etwas langweilig für die Leserin oder den Leser – exakt zu formulieren, und damit auch die folgende Aussage zu präzisieren:
Ja, wir haben für die Sommer- und Frühherbsttemperaturen und für weite Gebiete Mitteleuropas die Existenz einer Mittelalterlichen Wärmephase zeigen können, die (das war neu) deutlich in zwei besonders warme Phasen im 10. und im 12. Jahrhundert getrennt durch ein kühleres 11.Jahrhundert zerfällt. Die folgenden Jahrhunderte brachten eine allmähliche Abkühlung zu einer „kleinen Eiszeit“ (LIA), deren Kernphase vom späten 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert in den Sommern der Region rund 2°C kälter war, als in den beiden wärmsten Jahrhunderten der MWP. In der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts begann eine deutliche Erwärmung, die zu einem ersten Maximum in der Mitte des 20. Jahrhunderts führte, das dasselbe Temperaturniveau wie die beiden warmen Jahrhunderte des MWP erreichte. Der ganz aktuelle neuerliche Erwärmungstrend vor allem der 1980er und 1990er Jahre hat die wärmsten Jahrzehnte der MWP zumindest ebenfalls erreicht. Die geringen Differenzen zwischen den wärmsten Jahrzehnten der MWP und der aktuellen Wärmeperiode liegen im Unsicherheitsbereich sowohl der indirekten als auch der direkten Klimadaten (große interannuelle Variabilität, Homogenitätsproblem, nichtklimatische Einflüsse in den Proxies u.a.m.)
W.v.B.: Nun sprach Dr. Lamb in seinen Veröffentlichungen zur MWP nicht nur von Mitteleuropa sondern dehnte seine Aussagen mitunter auch auf Europa und die Nördliche Hemisphäre, genauer auf Grönland aus. Zahlreiche Studien vergangener Tage sprechen hierzu eine, wie ich finde klare Sprache.
Ich konnte für Europa (2003-2010) mehr als 50 Studien anführen. Für die Nördliche Hemisphäre seien hier Grönland und Island hervorgehoben und folgende Studien erwähnt:
- Dahl-Jensen et al.: Past Temperature Directly from the Greenland Ice Sheet, in: Science, Vol. 282, 9. October 1998.
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, ca. 620 KB] unter: Past Temperature ...)
- Vinther et al.: Climatic signals in multiple highly resolved stable isotope records from Greenland, in: Quaternary Science Reviews, Volume 29, Issues 3-4, February 2010.
(Abstract abrufbar unter: Climatic signals in multiply highly ... )
(Abstact abrufbar unter: Diatom-inferred climatic ...)
Schließlich eine Studie zu Island:
- Ran et al.: Diatom-based reconstruction of palaeoceanographic changes on the North Icelandic shelf during the last millennium, in: Palaoegeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, Article in Press, Corrected Proof.
(Abstract abrufbar unter: Diatom-based reconstruction ...)
Sehen Sie die Aussagen Lambs für die Nördliche Hemisphäre als bestätigt an; wie ist der wissenschaftliche Stand der Dinge, gibt es einen Konsens?
Dr. Böhm: Ja, es gibt eine große Zahl von gut durchgeführten Analyen, die die Großräumigkeit der Existenz einer MWP bestätigen. Naturgemäß wird die „Amplitude“ der Schwankung MWP-LIA geringer, je größer das Mittelungsgebiet wird – eine Selbstverständlichkeit, die sich aus der Vielfalt von regionalen Abweichungen von großräumigen Mitteln ergibt.
Seit der Hockeystick-Rekonstruktion von Mike Mann et al (1999), wurde eine größere Anzahl weiterer Rekonstruktionen versucht, die als Ziel zumindest die gesamte Nordhemisphäre hatten. Wie es in der Wissenschaft typisch ist, wenn ein Gegenstand genauer “unter die Lupe genommen“ wird, wurde die Spannweite der Ergebnisse zunächst breiter – vom Dogma des „Hockeysticks“ sind wir nun bei den „Spaghetti-Kurven" gelandet, deren Amplitude MWP-LIA nun zwischen 0.3° und 1.0°C liegt.
Um diese trockenen Beschreibungen zu beleben, habe ich Ihnen Diagramme dieser Hockeysticks und Spaghettis beigefügt [4]. Um genauer zu sein handelt es sich um einen von mehr als 80 Kurzbeiträgen, die unsere Gruppe im Herbst auf der Website der ZAMG (http://www.zamg,ac,at) als unsere hoffentlich weitestgehend rationalen und fundierten „Informationshappen“ zur Klimadebatte öffentlich zugänglich machen wird. Betrachten Sie den „infobite“ über das Klima des letzten Millenniums als eine Art Vorpremiere.
W.v.B.: Wenn wir über die Aussagen Lambs hinausgehen - obwohl Lamb ja eigentlich Evidenz "from the Arctic to New Zealand" anführte (Cf., Lamb: The early medieval warm epoch and its sequel, in: Palaoegeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, 1: 14ff.) -, steht die Frage im Raum, ob die MWP ein weltumspannendes Phänomen war. Wiederum Dutzende Studien scheinen hierzu eindeutig zu sein:
Einige seien, nicht repräsentativ, herausgegriffen:
- Tandong et al.: Temperature and methane records over the last 2ka in Dasuopu ice core, in: Science in China, Vol. 45, No. 12, Dezember 2002.
- Demezhko und Golovanova: Climatic changes in the Urals over the past millennium - an alnalysis of geothermal and meteorological data, in: Climate Past, 3, 2007.
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, 8 MB] unter:
Climatic changes in the Urals ... - ich rate jedoch, den Download von nachstehender Seite, mit "speichern unter", vorzunehmen:
http://www.clim-past.net/3/237/2007/cp-3-237-2007.html)
http://www.clim-past.net/3/237/2007/cp-3-237-2007.html)
(abruf-/ downloadbar [pdf-Format, 370 KB] unter:
Evidence for a 'Medieval Warm Period' ...)
Evidence for a 'Medieval Warm Period' ...)
- Driese et al.: Possible Late Holocene equatorial palaeoclimate record based upon soils spanning the Medieval Warm Period and Little Ice Age, Loboi Plain, Kenya, in: Palaeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, Volume 213, Issues 3-4, 21. October 2004.
(Abstract abrufbar unter: Possible Late Holocene ...)
Interessant auch eine der allerneuesten "eklektischen" Arbeiten von Ljungqvist "Temperature proxy records covering the last two millennia: a tabular and visual overview" (der Abstract abruf-/ downloadbar [txt-Format, ca. 1,3 MB] unter: Temperature proxy records covering the last two millennia), worin er nach erstmaliger Auswertung von 71 "proxy-series" zum Ergebnis gelangte, dass die MWP mit großer Evidenz als wein wohl weltumgreifendes Phänomen eingestuft werden kann. Aus dem Abstract:
Here, the first systematic survey is presented, with graphic representations of most quantitative temperature proxy data records covering the last two millennia that have been published in the peer-reviewed literature. In total, 71 series are presented together with basic essential information on each record. ... Both the Medieval Warm Period, the Little Ice Age and the 20th century warming are clearly visible in most records, whereas the Roman Warm Period and the Dark Age Cold Period are less clearly discernible.
Wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um verschiedenste Proxydaten handelt, angefangen von Baumring- bis hin zu Bohrkerndaten und den Lamb'schen Zeitraum (ca. 900-1300 A.D.) für ein Auftreten einer MWP weltweit berücksichtigt, dann erscheint mir kein Zweifel mehr daran zu bestehen, dass es starke wissenschaftliche Evidenz dafür gibt, dass die MWP ein weltumspannendes Phänomen war - wenngleich mit verschieden starker lokal- und temporärer Ausprägung. Wie ist Ihre Einschätzung dahingehend?
Dr. Böhm: Wenn Sie es „starke wissenschaftliche Evidenz für die Existenz einer weltumspannenden MWP“ nennen, stimme ich dem zu. Daran gibt es keinen Zweifel. Wenn sie, wie die Extremisten der einen Seite gerne anführen, gesagt hätten, „dass die MWP die aktuellen Temperaturen deutlich übertroffen haben“, hätte ich widersprechen müssen. Das ist nicht „state of the art“. Dass die Fundamentalistenfraktion der anderen Seite die MWP gern kleinschreibt und damit auch gleich deren unbestreitbar einzige in diesem Zeitfenster in Frage kommenden äußeren natürlichen Klimaantriebe (solar und vulkanisch) sei beklagt und ist nur einer der postnormalen Auswüchse einer interessen-gesteuerten Forschung – und sei deren Ziel („die Rettung der Welt“) noch so hehr.
Warum so wunderbar gestritten werden kann in der Frage des globalen Ausmaßes der MWP und vor allem über die global „Amplitude“ des Komplexes MWP-LIA liegt daran, dass wir leider – trotz einer Vielzahl vorliegender Proxy-Reihen, noch nicht die dafür notwendige globale Dichte haben, dass viele der Proxies nur saisonal sind, die Saisonalität bei den natürlichen Proxies „sommerlastig“ ist, dass die historischen Dokumente (die diese Sommerlastigkeit nicht haben) in der ersten Hälfte des Millenniums schnell sehr dünn gesät werden. Diese Unzulänglichkeiten des globalen Proxynetzes zurück bis zur MWP müssen durch ausgeklügelte statistische Verfahren ausgeglichen werden, über die ebenfalls noch keine wirkliche Einigkeit herrscht.
Last but not least ist ein endgültiges physikalisches Verstehen der Klimavariabilität über ein Jahrtausend und mehr auch davon abhängig, dass die äußeren Klimaantriebe zweifelsfrei dokumentiert sind (was leider auch noch nicht ganz klar ist, wie die recht heftig geführte Debatte über den solaren Klimaantrieb zeigt). Erst dann können auf den leistungsfähigsten Großrechnern lange Klimasimulationen des Klimasystems der Erde 1000 Jahre und länger zurück in die Vergangenheit gerechnet werden, die Fragen wie die der raum-zeitlichen Strukturen und des Ursache-Wirkungsgefüges von MWP, LIA und aktueller Warmzeit rational beantworten können.
Ich will damit niemand auf den Sanktnimmerleinstag vertrösten. Diese Zukunft hat schon begonnen. Am deutschen Klimarechenzentrum in Hamburg wurde kürzlich eine 7000-jährige Simulation mit dem Modell ECHO-G durchgeführt, deren Auswertung gerade begonnen hat.
W.v.B.: Sehr geehrter Herr Dr. Böhm, ich möchte Sie kurz um eine Resümee Ihrerseits zu den hier aufgeworfenen Fragen bitten.
Dr. Böhm: Wenn Sie es ganz kurz haben wollen:
MWP ja,
in einzelnen Regionen, wie z.B. im Alpenraum, auch quantifizierbar, und etwa gleich warm wie das Temperaturniveau in der Mitte und in den letzten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts,
hemisphärisch bis global auch ja, aber noch nicht so gut quantifizierbar,
physikalisch noch nicht ganz durchschaut, aber wir sind auf dem Weg dazu.
W.v.B. Ich danke für das Gespräch!
Dr. Böhm: Ich danke auch, verabschiede mich in den Urlaub und bitte um Verständnis, wenn ich im Lauf des Monats August mich deshalb nicht an einer evt. ausbrechenden Blog-Diskusion beteiligen kann
copyright W.v.B.
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Fußnoten
[1] Cf., Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, Buch 6, Diogenes [Kyniker], 40, Stuttgart: Reclam 1998, 268.
[2] Von Storch schreibt in "Klimaforschung und Politikberatung - zwischne Bringeschuld und Postnormalität", erschienen in: Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften 2009 (abruf-/ downloadbar [pdf-Format, 320 KB] unter: Klimaforschung und Politikberatung), Folgendes:
Der Begriff "postnormal" wurde von dem Silvio Funtovitz und Jerome Ravetz in den 1980er Jahren in die Analyse eingebracht (vgl. Funtowicz u. Ravetz 1985, S. 217-231). In einer Situation, wo Wissenschaft in ihren konkreten Aussagen unsciher bleiben muss, und in der die Aussagen der Wissenschaft von erheblicher praktischer Bedeutung für die Ausformulierung von Politik und Entscheidungen sind, wird diese Wissenschaft immer weniger von reiner "Neugier" getrieben, die in idealistischer Verklärung als innerste Triebfeder von wissenschaft dargestellt wird, sondern von der Nützlichkeit der möglcihen Aussagen für eben die Formulierung von Entscheidungen und Politik. Nicht mehr die Wissenschaftlichkeit steht im Zentrum, die methodische Qualität, das Poppersche Falsifikationsdiktum oder auch der Flecksche Reparaturbetrieb überzogener Erklärungssysteme (vgl. Fleck 1980), sondern die Nützlichkeit. "Nichts ist os praktisch wie eine gute Theorie", sagte Kurt Lewin (Lippitt 1968, S. 266-271) dazu und verwies damit auf die Fähigkeit, Entscheidungen zu ermöglichen, Handlungen zu leiten. Nicht die Richtigkeit oder die objektive Falszifizierbarkeit steht im Vordergrund, sondern die soziale Akzeptanz.
[zitierte Literatur: -Funtowicz, Silvio O., and Jerome R. Ravetz. 1985. Three types of risk assessment: a methodological analysis. In Rist Analysis in the Private Sector, Hrsg. C. Whipple and V.T. Covello, 217-231. New York: Plenum. - Fleck, Ludvik. 1980. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. - Lippitt, Ronald. 1968. Kurt Lewin. In International Encyclopedia of the Social Sciences, Hrsg. David Sills, 266-271. Bd. 9. New York: Macmillan & Free Press.; W.v.B.]
[3] Diesen Vergleich, der mir passend schien, habe ich aus Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein, 2. Auflage, Paderborn: Schöningh 1998, 191, entnommen.
[4] Gern gebe ich die von Dr. Böhm angesprochenen Diagramme an meine Leser weiter - für weiterreichende Informationen sei auf die Homepage der ZAMG und das von Dr. Böhm erwähnte Datum der Veröffentlichung der Kurzbeiträge im frühen Herbst verwiesen.